Beitrag #1
Laudatio Verae Pictoris, oder Ein Versuch über dies alles
von Matthias Kuhn | Zeughaus Teufen

Meine Damen und Herren

«Ich wollte, Gott hätte mir eine Redegabe verliehen, die der Grösse» dieses Universums über das «ich hier sprechen will [...] entspräche. [...] Da es uns nun aber nicht gegeben ist, alles, was wir wollen, auch zu können, werden wir alle unsere Kräfte aufbieten, damit man sehe, dass uns nicht der Wille, sondern höchstens das Können gefehlt habe. [...] ich werde also glauben, meiner Aufgabe genügt zu haben, wenn ich alles, was ich mir durch Eifer, Unterricht, Redepraxis und nicht zuletzt durch vieles Studieren an Können erworben habe, für die Lobrede [...] aufbiete, auch wenn ich klar erkenne, dass es nicht ausreicht, um dem gewaltigen Glanz» all dessen, was ich jetzt beschreiben und erörtern, worauf ich hinzeigen und hinweisen will, «gewachsen zu sein.»

Und die Redegabe ist noch nicht mein grösster Mangel, denn was «die meisten Redner gesagt haben: Sie wüssten nicht, womit anfangen, das passiert mir nicht in rhetorischer, sondern in stofflicher Hinsicht, und zwar nicht nur, weil es zahlreiche und verschiedenartige und miteinander vielfach verknüpfte Einzeldinge sind, sondern auch, weil sie alle derart glänzend und irgendwie aussergewöhnlich sind, dass sie sich den Vorrang streitig zu machen scheinen, und weil es schwerfällt zu entscheiden, welches man denn nun in der Rede an den Anfang stellen soll.» [1]

Diese Sätze schrieb Leonardo Bruni in seiner 1403 verfassten «Laudatio Florentinae Urbis», dem Lob der Stadt Florenz, einer Stadt, die er in ihrer ganzen Komplexität für eine mehrbändige «Geschichte des Volkes von Florenz» darzustellen sich eben angeschickt hatte. Diese Sätze sind wie geschaffen, die Schwierigkeiten anzudeuten, die mich hinhalten, seit ich begonnen habe, mich intensiv mit dem Universum der Fragmente von Vera Marke zu beschäftigen, einem Text- und Bildall, das bis zum heutigen Tag über 6000 in vielfachen Zusammenhängen stehende Einzelteile zählt und dazu im Begriffe ist zu expandieren, nicht wie eine spätmittelalterliche, erblühende Stadt allerdings, sondern wie eine moderne Metropole, explosiv.

Dieses Universum der Fragmente heisst umfassend und mit gleichzeitig immanent privatenzyklopädischem Anspruch und doch auch wieder stiller Bescheidenheit Diesalles, trägt die Länderkennung .ch und wird dereinst alle Text- und Bildfragmente, die im künstlerischen Denken und in der Forschung von Vera Marke von Belang sind, versammeln. Von den Wegen durch dieses plurale Universum und von seinem Bau, davon soll, nebst einigen Abschweifungen, diese Abhandlung, die ich «Laudatio Verae Pictoris» nennen will, sprechen.

Ich rufe euch an: «O Musen, o hohe Erfindungskraft, jetzt steht mir bei, / o Geist, der aufschrieb, was ich sah, / hier wird sich dein edler Sinn erweisen.» [2]

Zweifache Hilfe beim Einstieg in die Tiefen des mannigfach verwebten Universums von Diesalles bietet Robert Walser, der stille Patron des Projektes. «Dies alles», schreibt er, «so nahm ich mir fest vor, zeichne und schreibe ich demnächst in ein Stück oder in eine Art Phantasie hinein, die ich Der Spaziergang betiteln werde.» [3]

Zum einen liefert das Zitat den Titel für das Marke-Projekt, denn auch sie nahm sich vor «dies alles», eben alles was ihr bezüglich ihrer Beschäftigungen einigermassen relevant vorkam, in eine Art Stück oder vielmehr eine Art privates Lexikon hineinzuschreiben. Es geht, wie es bei Walser heisst, um «Neues und Unerhörtes» aus «Paris und Petersburg, Bukarest und Mailand, London und Berlin», um alles was «elegant, liederlich und hauptstädtisch» und geeignet ist, einen zu «blenden, berücken, faszinieren».

Vielleicht ist der Entscheid Diesalles zu verfassen in etwa so zu verstehen, wie es Alberto Savinio in seiner «Nuova Enciclopedia» erklärt, die deutsch als «Mein privates Lexikon» erschienen ist: «Ich bin so unzufrieden mit den Enzyklopädien, dass ich mir diese hier für meinen persönlichen Gebrauch geschieben habe.» [4]

Zum andern aber will Walser seine Erzählung «Der Spaziergang» nennen. Es geht ihm in seinem Text nicht um das zielstrebige, schnelle Vorwärtskommen, sondern um das langsame Gehen, Schritt für Schritt, auch um das Stehenbleiben und Innehalten, welches ein Gespräch und ausführlich schweifende Blicke ermöglicht. Es geht damit auch um das Umherschweifen, vielleicht sogar das Abkommen vom Weg, das Zurückfinden, die Ablenkung, die Rückbesinnung, das Vor- und Zurückgehen. Mit dem Spazieren verbunden ist eine Art des Sehens, die von der gebannten Aufmerksamheit des betrachtenden bis zur vollkommenen Selbstvergessenheit des abschweifenden Blicks reicht und der gesamten Wahrnehmung, welche die Gefühle für das Wetter, die Luft, den Boden, die gebaute und natürliche Umgebung usf. beinhaltet. Die Methoden des Spazierens geben uns damit eine Art Wegleitung an die Hand, wie wir uns in einem Text, zumal einem derart kleinteilig versprengten wie wir ihn in der Form der vorliegenden digitalen Arbeitsenzyklopädie vor uns haben, (geistig) bewegen können und entlastet uns zudem vom Zwang, linear stringent vorgehen zu wollen.

Über den Sinn des Spazierens, vor allem über den Zusammenhang zwischen Gehen und Denken, also zwischen der körperlichen und der geistigen Aktivität (Denken und Sehen), ist viel nachgedacht worden. «Mein Geist geht nicht, wenn meine Beine ihn nicht bewegen» [5], schreibt Michel de Montaigne. Auch Johann Wolfgang von Goethe spazierte: «Ich ging im Wald / so für mich hin, / Und nichts zu suchen, / Das war mein Sinn [...]». Johann Gottfried Seume, der seine Monumentalwanderung von Leipzig nach Syracus im Jahre 1802 einen Spaziergang nannte – auf dem er sogar zweimal seine Schuhe neu besohlen lassen musste – wusste: «Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt.» [6]

Wir erinnern uns beim Blättern in den Büchern zahlloser Spaziergänger, realer und fiktionaler. «Den (20. Januar) ging Lenz durchs Gebirg. [...] Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts.» Nichts, das den Gehenden bei Büchner ablenkt vom Denken. Was bleibt ist die langsame Bewegung, die nichtssagende Landschaft, die verfliessende Zeit ... Das üppigste Gehkonzept entwirft Italo Calvinos Marco Polo. Er erzählt von seiner abschweifenden Reise, die ihn von Italien durch viele unerhörte, rätselhafte Länder und Städte nach der Mongolei an den Hof des Kublai Khan geführt hat. Er entpuppt sich dabei – als Reisender mit fernem, vagem Ziel, als Wanderer zwischen den Städten – ebenfalls als Spaziergänger: «Tagelang geht der Mensch zwischen Bäumen und Steinen einher. Selten verweilt das Auge auf einem Ding, nämlich wenn er es als Zeichen für etwas anderes erkannt hat: Eine Spur im Sand deutet auf das Vorbeikommen eines Tiger, eine Pfütze verheisst eine Wasserader, eine Hibiskusblüte das Ende des Winters. Alles übrige ist stumm und auswechselbar: Bäume und Steine sind nur, was sie sind.» [7]

Dass Gehen, zumal Miteinander-Gehen, glücklich macht, beweisen Bouvard und Pécuchet, Flauberts Beamtenpaar: «Eines Sonntags setzten sie sich früh am Morgen in Marsch [...]» Sie gehen den ganzen Tag und kommen «sehr spät nach Hause, bestaubt, erschöpft, entzückt.» [8] Und schliesslich spaziert auch der Komponist Erik Satie vor allem um nachzudenken. «Und tatsächlich wurde [er] dabei beobachtet, wie er während seiner Spaziergänge innehielt, um sich Ideen zu notieren, im Dunkeln notfalls unter einer Strassenlaterne.» [9] Bei Thomas Bernhard schliesst sich der weite Bogen zu Montaigne: «Wir müssen gehen, um denken zu können.» [10]

So hat sich nun eine schöne Einerkolonne von Gehenden gebildet, die alle nicht nur einfach gehen, sondern vom Gehen nichts geringeres erwarten als die Anregung ihres Geistes. Deshalb darf zuvorderst in dieser Prozession Francesco Petrarca nicht fehlen. Sein vagando et cogitando erscheint nach all den kleinen Abschweifungen wie das Programm für unser Vorhaben einer Erforschung des Universums von Diesalles. Gehend und denkend, umherschweifend und nachsinnend, erfährt und begreift Petrarca die Welt. Für sein ganzes Werk ist diese Bewegung des Körpers und des Geistes von grosser Wichtigkeit. Als Spaziergänger, als früher Wanderer, ist er unsterblich geworden. Als Erster berichtet er von der einzig der Bewunderung der Natur gewidmeten Besteigung eines Berges. Kein strategisches, administratives oder praktisches Interesse führt ihn, er ist «allein vom Drang beseelt, diesen ausserordentlich hohen Ort zu sehen». Er schreibt: «Zuerst stand ich, durch den ungewohnten Hauch der Luft und die ganze freie Rundsicht bewegt, einem Betäubten gleich da.» [11]

Petrarca spaziert um zu denken und dabei will er unter keinen Umständen gestört werden. «Da wandere ich hin, und wie schon oft traf ich unversehens auf Lager des Wildes, wie oft schon hat ein kleiner Vogel den Sinn in tiefen Gedanken gestört und mich zur Unzeit abgelenkt! Dann fällt mir jeder zur Last, der mir mitten auf schattigem Weg begegnet, selbst, wenn er nur leise grüsst, bin ich doch mit anderem beschäftigt und bedenke vieles, was gross ist.» [12]

Dass nun das Gehen das Denken und damit die Wahrnehmung erst in Schwung bringe, hat eine beinahe zwingende innere Notwendigkeit. Auch könnte man sagen, dass das Gehen den Blick erst richtig in Schwung bringt und sicher könnte man auch die Bewegungen des Blickes als ein Spazieren verstehen, wenn man sein Umherschweifen, seine manchmal plan- und oft haltlose Entdeckerlust bedenkt. Schlägt man übrigens das Wort spazieren bei Herrn Kluge im «Etymologischen Wörterbuch» nach, kann man dort folgendes lesen: spazieren heisse, schreibt er, ohne Hast gehen, und sei entlehnt aus dem gleichbedeutenden italienischen Wort spaziare, welches wörtlich bedeute sich im Raum ergehen.

O meine Musen, «[...] wir wissen viel Falsches zu sagen, dem Wirklichen Ähnliches, / wir wissen aber auch, wenn wir wollen, Wahres zu verkünden.» [13]

Ich sprach mit Bruni eingangs von den immensen Schwierigkeiten, vor welche ich mich angesichts von Diesalles gestellt sah. Walser und die Idee des Spaziergangs haben mir strategisch erheblich weiter geholfen. Eine weitere Hilfe ergab sich, nicht ganz unerwartet, aus der Heiligen Schrift. Ich schlug meine Bibel nach Martin Luther auf. Mose spricht in seinem ersten Buch, Kapitel 5, von den Geschlechtern von Adam bis Noah, mit dessen Nachkommen es nach der Sintflut in Kapitel 10 weitergeht. Es werden aufgezählt die Söhne und dann wieder deren Söhne. Es folgt der Turmbau zu Babel und am Ende des 11. Kapitels die Geschlechterregister von Sem bis Abraham usf. [14] Der Fingerzeig hat zunächst etwas durchaus Enigmatisches.

Das nächste Hilfeangebot kam, erwartungsgemäss möchte ich diesmal sagen, von François Rabelais. Im 22. Kapitel des Buches Gargantua und Pantagruel heisst es: «Dann wurde ein Teppich über die Tafel gebreitet, und nun kamen Karten, Würfel und Damebrett an die Reihe. Da spielte er: Dreiblatt, Rappsen, Ersten, Hundert, Dornbusch, Wenigsten, Räuber, Rabuse, Triumph, Pikardisch, Renette, Barignin, Tricktrack, Alle Steine, Zehntpassen [...]» So geht es weiter und weiter, es werden etwas über 200 Spiele aufgezählt, alle spielte Gargantua, schön der Reihe nach. Dann heisst es: «[...] und nachdem man gehörig gespielt und seine Zeit gründlich totgeschlagen und verzettelt hatte, trank man wieder ein bisschen [...]» [15]

Dann half, einmal mehr, Jorge Luis Borges. In seinem Essai «Die analytische Sprache von John Wilkins» zitiert er eine chinesische Enzyklopädie mit dem Titel Himmlischer Warenschatz wohltätiger Erkenntnisse. Dort heisst es: «Die Tiere [unterteilen] sich wie folgt: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) streunende Hunde, h) in diese Einteilung aufgenommene, i) die sich wie toll gebärden, j) unzählbare, k) mit feinstem Kamelhaarpinsel gezeichnete, i) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.» [16]

Und schliesslich half der Maler Gustave Courbet. An der Wand seines Ateliers in Paris hatte er eine Liste mit Regeln aufgehängt: «1. Mach nicht, was ich mache. 2. Mach nicht, was die anderen machen. 3. Wenn du machen würdest, was Raffael machte, hättest du keine eigene Existenz. Selbstmord. 4. Mach, was du siehst und was du spürst, mach was du willst.» [17]

Natürlich geht es in diesem Zusammenhang bei allen Textstellen nicht primär um den Inhalt, sondern allein um die Form der Liste und um die aus der Aufzählung entstehende Erzählung. Diesalles ist ein übervoller Zettelkasten, ein Panorama des Gesehenen und Gelesenen, ein ausschweifender Atlas, der alle Materialien verzeichnet, die insgesamt den stetig anwachsenden Subtext zu Markes künstlerischem Denken bilden. In diesem Sinne ist Diesalles nichts anderes als eine Liste ... ein Aufzählung, ein Verzeichnis, ein Index, ein Register, ein Katalog ... und letztlich, wenn wir den aufgelisteten Inhalten folgen, in der Gesamtheit aller erfassten Materialien, ein Archiv oder eine Enzyklopädie.

Bei aller Systematik macht Diesalles allerdings den Eindruck, als sei es das Gegenteil eines seriös geführten Archivs, da der Besucher bei jedem Eintritt in eine Abteilung die Bilder und Texte neu sortiert vorfindet und sich so an keine Ordnung halten kann ausser an jene zentrale Beschriftung, die darauf hinweist zu welchem Schlagwort in der betreffenden Abteilung gesammelt wird: Ähnlichkeit, Bild im Bild, doppelt, Fläche, Geheimnis, Grotte, Haar, Kuh, Markt, Palette, Paradies usf. Die in diesen Text- und Bildsammlungen archivierten Einzelstücke geraten allerdings, wenn sie plötzlich und zufällig aus dem Archiv gezogen nebeneinander liegen, in tausendfältige Zusammenhänge. Das massgebliche Muster der Sammlung ist jenes der Assoziation und der Vernetzung, die wesentliche Herausforderung an die Besucherinnen und Besucher jene der Imagination.

Auch wenn man durchaus sagen kann «[...] jede Einzelheit ist trefflich ausgeführt und das Ganze aufs schönste zusammengestellt» [18], so stellt sich im Gebrauch schnell heraus, dass das vorliegende Archiv insgesamt paradox ist. Natürlicherweise suggerieren die eingelagerten Text- und Bildfragmente ein Ganzes, das sich aus allen Einzelteilen ergibt, ein Ganzes vielleicht mit dem Titel «Das künstlerische Denken und Leben der Malerin Vera Marke» oder auch schlicht «Von der Malerei». Dieses Ganze bleibt aber, soviel wird schnell klar, selbst explizit fragmentarisch, das heisst es bleibt immer das Bruchstück eines allenfalls denkbaren höheren Ganzen, das auch bei unendlichem Zuwachs von Neuzugängen ewig unvollendet bleiben müsste.

Natürlich – und das löst das Paradox leider keinesfalls auf – wohnt aber dem Fragment selbst, dem kleinsten Teil, dem Baustein von Diesalles, die stärkste Energie inne, denn es setzt die Assoziationsmaschinerie gerade durch seine Unvollständigkeit in Gange und verlangt immer weitere Versatzstücke, die, wie bereits gesagt, im Archiv in grösster Zahl bereit liegen. Und darüber hinaus verlangt das Fragment wie selbstverständlich auch die kompletten Romane, Erzählungen, die Biografien und theoretischen Abhandlungen, die ganzen Bilder samt ihren Umgebungen, kurzum, es verlangt die vollständige Geschichte und alle Geschichten.

«Jetzt sind wir aber arg abgeschweift, richte deinen Blick nun wieder zurück auf die richtige Strasse, damit sich auch der Weg verkürzt, nicht nur die Zeit.» [19] Danke Dante ...

Francesco Petrarca macht mit seinem Freund, dem Kardinal Giovanni Colonna während eines Rombesuchs zahlreiche lange Spaziergänge durch die Ruinenfelder der antiken Stadt. «Und beim Gang durch die Mauern der zerstörten Stadt und wenn wir uns dort niederliessen, hatten wir die Bruchstücke der Ruinen vor Augen.» [20] Ihre Ausgänge enden jeweils auf dem Dach der Diokletiantherme, «die Luft rein und der Ausblick frei» [21]. Die Geschichte erzählt, Petrarca hätte sich von dort oben die antiken Ruinen immer wieder lange angesehen, bis er am Schluss die Stadt intakt und als Ganzes vor Augen gehabt habe.

Auch Filippo Brunelleschi begibt sich nach Rom, um dort die Ruinen auszumessen und dadurch Erkenntnisse über die Proportionen der antiken Architekturen zu gewinnen. Er betreibt seine Arbeit so intensiv und vollständig, dass zuletzt, wie Giorgio Vasari schreibt, «sein Geist ihn fähig machte, Rom vor sich zu sehen, wie es vor der Zerstörung gestanden hatte». [22]

Mit dieser ungeheuren Imaginationskraft, die es uns ermöglicht Welten nicht nur zu sehen, sondern sie auch zu erschaffen, werden wir uns nun hinsetzen und im Universum von Diesalles, Satz für Satz und Bild für Bild unser eigenes System finden und erkunden. Wir werden vieles entdecken was uns mehr oder weniger zufällig vor die Augen kommt, werden eigene Bausteine und Versatzstücke, eigene Einzelteile einpassen und wieder verwerfen, wir werden Bücher hervornehmen, blätternd lesen und in grossen Bildbänden, aber auch draussen in der Stadt und in der Natur neue, überraschende und altbekannte Bilder sehen. Dabei werden Notizen und Skizzen entstehen und verschwinden, werden lose Gedanken sich verdichten, dichte Gedanken sich in Nichts auflösen, Ideen auf- und abtauchen, Pläne entstehen und Wünsche erfüllt werden, es werden Erzählungen geschrieben und Bilder gemalt. Und ich kann ihnen versichern, sie werden das eine übers andere Mal mit mir und Bruni ausrufen: «Es ist, bei Gott, alles ein Fest für die Augen und über die Massen schön.» [23]

Meine Damen und Herren, zum Abschluss dieser Ausführung stehen uns, ganz gemäss den multiplen Möglichkeiten von Diesalles drei alternative Schlüsse zur Verfügung.

Erstens. Ich schlug den Spaziergang als geeignete Strategie vor, sich in Universum von Diesalles zu bewegen. Einer der prominentesten Spaziergänger, Lucius Burckhardt, seines Zeichens Promenadologe, schreibt: «Der Spaziergang führt nicht zu einem einzigen, spektakulären Ziel und von da wieder zurück, und die Erzählung aus der Erinnerung beschreibt nicht ein einziges Bild, sondern macht eine Synthese aus einer Kette von Eindrücken. [...] Der Spaziergang ist also eine Kette, eine Perlenschnur mit ausdrucksstärkeren und dann wieder ausdrucksschwächeren, immer aber wirksamen Passagen, die unsere Wahrnehmung synthetisiert.» [24]

Zweitens. Ausgehend vom Begriff der Liste räsonierte ich über das Fragment und das Ganze. Der grosse Leonardo aus Anchiano bei Vinci sagt: «Jeder Teil eines Dings enthält etwas von der Natur des Ganzen.» [25]

Drittens. Thomas Bernhard kommentiert nicht nur trefflich Diesalles von Vera Marke, sondern auch meine Laudatio Verae Pictoris und entlastet auch Sie, meine Damen Herren, ganz gewaltig. Er schreibt nämlich: «Selbst eine philosophische Abhandlung verstehen wir besser, wenn wir sie nicht zur Gänze auffressen in einem Zug, sondern uns nur ein Detail herauspicken, von welchem wir dann auf das Ganze kommen, wenn wir Glück haben. Die höchste Lust haben wir ja an den Fragmenten, wie wir am Leben ja auch dann die höchste Lust empfinden, wenn wir es als Fragment betrachten, und wie grauenhaft ist uns das Ganze und ist uns im Grunde das fertige Vollkommene.» [26]

Herzlichen Dank und auf Wiedersehen.



[1] Leonardo Bruni, Lob der Stadt Florenz, 1403

[2] Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, 14. Jahrhundert

[3] Robert Walser, Der Spaziergang, 1917

[4] Alberto Savinio, Mein privates Lexikon, 2005

[5] Michel de Montaigne, Essais III, 3, 1588

[6] Johann Gottfried Seume, Spaziergang nach Syracus im Jahre 1802

[7] Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte, 1972

[8] Gustave Flaubert, Bouvard und Pécuchet, 1881

[9] Mason Currey, Für mein kreatives Pensum gehe ich unter die Dusche, 2014

[10] Thomas Bernhard, Gehen, 1971

[11] Francesco Petrarca, Die Besteigung des Mont Ventoux, 1338

[12] Francesco Petrarca, Epistulae Metricae/Briefe in Versen, Brief an Giacomo Colonna, 1438

[13] Hesiod, Theogonie, um 700 v. Chr.

[14] Die Bibel nach Martin Luther, 1. Buch Mose, Kapitel 5–11, 4. Jahrhundert vor Christus

[15] François Rabelais, Gargantua und Pantagruel, 1532

[16] Jorge Luis Borges, Die analytische Sprache von John Wilkins, in: Inquisitionen, 1941–1952

[17] David Bosc, Ein glückliches Exil, 2014

[18] Giorgio Vasari, Künstler der Renaissance, Gentile Bellini, 1550

[19] Dante Alighieri, Die göttliche Komödie, Das Paradies, XXIX. Gesang, 14. Jahrhundert

[20] Francesco Petrarca, Familiares VI, 2, 1341

[21] Francesco Petrarca, Familiares VI, 2, 1341

[22] Giorgio Vasari, Künstler der Renaissance, Filippo Brunellesco, 1550

[23] Leonardo Bruni, Lob der Stadt Florenz, 1403

[24] Lucius Burckhardt, Warum ist Landschaft schön? Die Spaziergangswissenschaft, 2006

[25] Leonardo da Vinci, Aphorismus auf http://de.wikipedia.org/wiki/Leonardo_da_Vinci, 3. Mai 2015

[26] Thomas Bernhard, Alte Meister, 1988

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